SAMMLUNG
Bestellte Leichen für die Anatomie
Ein Hinrichtungsopfer der Nazis wird 1943 der Anatomie ‚angeboten‘ (Foto: Michael Markert.)
Der Anatom Erich Blechschmidt übernahm 1942 das Amt als Direktor des Anatomischen Institutes der Universität Göttingen. Unter diesem Aspekt erscheint es sinnvoll, auch auf den geschichtlichen Hintergrund einzugehen. Während des Zweiten Weltkrieges profitieren Anatomen deutscher Universitäten von Hinrichtungen in NS-Strafanstalten. Die Leichen der hingerichteten Opfer werden den Universitäten überlassen und für medizinische Lehrzwecke und Forschungen genutzt. Zu dieser Zeit existieren 240 Strafanstalten im Deutschen Reich, von denen in 22 Anstalten Hinrichtungen durchgeführt werden. Diese Anstalten werden je nach Region anatomischen Instituten zugeordnet, die die Leichen der Opfer nach ihrer Hinrichtung erhalten können.
Dem Institut für Anatomie der Göttinger Universität wird das Strafgefängnis Wolfenbüttel zugeteilt. Dort werden zwischen 1937 und 1945 526 Menschen hingerichtet. Es wird davon ausgegangen, dass über 217 dieser Leichname in der Göttinger Anatomie für Forschung und Lehre genutzt werden. Ab 1942 ist der Direktor Blechschmidt für die Beschaffung der Leichname aus Wolfenbüttel verantwortlich. Eine beachtliche Menge an Dokumenten zu Leichenlieferungen belegt einen intensiven Austausch zwischen Blechschmidt und der Anstalt Wolfenbüttel.
Anhand solcher Überlieferungsbriefe kann gezeigt werden, wie eine Leichenüberlieferung ablief. Vor einer Hinrichtung werden zunächst Angehörige des Opfers informiert. Wollen diese den Leichnam nicht bestatten lassen, wird die Anatomie angefragt. Für Göttingen ist es üblich, dass Blechschmidt solche Anfragen bestätigt. Direkt nach der Hinrichtung wird der Leichnam zum Institut transportiert und dort aufbereitet. Die Leichen werden von Studierenden der Medizin selbst präpariert und allgemein für die Lehre und die Forschung verwendet. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich vor allem in deutschen Sammlungen und Instituten der Anatomie unter den Präparaten auch heute noch solche von NS-Opfern befinden.